Aufruf zur Wahl des Fakultätsrats 2024

Veröffentlicht von Thomas Stahlhut am

„Wenn ich aber eine Überzeugung, eine religio mein eigen nenne, so ist es die, daß es nie eine Stufe gegeben hat, auf der der Mensch noch nicht Geist, sondern nur Natur war. Die modische Tendenz, ihn auf eine solche Stufe ›zurückzuführen‹, die Ideenverhöhnung der Zeit ist mir in tiefster Seele zuwider.“
Thomas Mann, Fragment über das Religiöse, 1931 (!).

„Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“
Bertolt Brecht, Margarete Steffin, „Die Mutter“, 1938/39.

Aktuell ist gesellschaftlich einiges im Argen: Die Corona-Pandemie hat Vereinzelung und Entfremdung der Menschen voneinander verstärkt, der Militarismus die Verrohung und Entmenschlichung, Kapitalbegünstigung, Inflation und Ausbeutung zu gesteigerter Prekarität. Die Aufgabe der Geisteswissenschaftler:innen besteht demgegenüber darin, den Menschen als kulturelles und gesellschaftliches Wesen zu erfassen und damit Grundlage für die Gestaltung der Verhältnisse im gemeinsamen Interesse zu schaffen. Das ist in den Geisteswissenschaften alles andere als unumstritten.

Beispielsweise wird dies deutlich anhand des Studiengangs „Intellectics“, der in der Philosophie eingeführt werden soll. Das Studiengangkonzept formuliert als langfristiges Forschungsziel des Studiengangs die Entwicklung von KI-Systemen, welche Aufgaben bestmöglich erfüllen können sollen. Unterstützung in der Pflege, wie die Betreuung im Pflegeheim durch „humanoide Roboter“, aber auch Exo-Skelette zur Unterstützung der Körperlichen Fähigkeiten von Menschen, werden als Beispiele angeführt. Die Angst vor Stellenkürzung und schlechten Arbeitsbedingungen, bedingt durch die hohe Leistungsfähigkeit der KI, soll durch die Optimierung individueller Leistungsfähigkeit beantwortet werden. Philosophie spielt dabei insofern eine Rolle, als dass die KI-Systeme nach einem sehr neoliberalismus-konformen Menschenbild gestaltet werden sollen. Der Mensch sei prinzipiell egoistisch, die wesentlichen Bedürfnisse des Menschen seien dementsprechend Anerkennung und Konsum.

In der Gesellschaft, wie in den Geisteswissenschaften ist eine humane Wende erforderlich: Die Schaffung von Frieden (Abrüstung und Entmilitarisierung), die Wiederherstellung bzw. der Ausbau sozialstaatlicher Errungenschaften, die Schaffung eines rationalen Mensch-Natur-Austauschverhältnisses, der Ausbau öffentlicher Gesundheits-, Kultur- und Bildungseinrichtungen. Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten bildet dafür die Grundlage.

Diese Wende durchzusetzen, erfordert geschichtsbewusst, neugierig, kritisch, solidarisch, egalitär, kooperativ und anspruchsvoll agierende Menschen. Das soll wesentlicher Zweck der Geisteswissenschaften sein – in der Philosophie zum Beispiel für eine menschengemäße Orientierung im schon vorhandenen Studiengag Mensch-Computer Interaktion in der MIN-Fakultät mitzuwirken.

Die Geisteswissenschaften als parteilich-humanistisches Studium zu gestalten ist jeder gefragt. In diesem Sinne wirken wir für:

Studienreform für die Bildung mündiger Menschen

Produktiver Erkenntnisgewinn und die solidarische Entfaltung der Persönlichkeiten zur Schaffung einer menschenwürdigen Welt braucht egalitäre Lehr- und Lernverhältnisse (statt Verschulung durch Prüfungen, Anwesenheitspflichten, Modularisierungen, …). Nach erkämpften Verbesserungen, wie der Abschaffung von Fristen und der Etablierung des Studium Generale, sind zu erwirkende Eckpunkte einer entsprechenden Reform:

  • Reduzierung der Prüfungslast und Zurückdrängen von Benotungen zugunsten kooperativer Erörterung über den Erkenntnisfortschritt,
  • die Ausweitung des Studium Generale auf die gesamte Uni,
  • der Ausbau des Projektstudiums und der studentischen Forschungsgruppen,
  • Überwindung der Leistungspunkte – Vergleich von Inhalt statt Leistung,
  • Schluss mit „Rausprüfen“: Aufhebung der Begrenzung von Prüfungsversuchen!

Soziale Verbesserungen erstreiten

Damit alle den oben genannten Ansprüchen ungemindert nachgehen können, streiten wir für grundlegende soziale Verbesserungen: Durch Aufruf zu und Freistellung für die Teilnahme an der hochschulübergreifenden Demonstration „Leerer Bauch studiert nicht gern“ (Beschluss des Fakultätsrats unter kritgeiwi.org dokumentiert); durch eigenständige politische Stellungnahmen und Engagement. Auf unsere Initiative kommt es dabei an:

  • Ausweitung und Erhöhung des BaföG zu einem Eltern- und herkunftsunabhängigen Vollzuschuss, der tatsächlich die Lebensgrundlagen für Studieren sichert.
  • Besser bezahlte, tarifgebundene und unbefristete Beschäftigungsverhältnisse für Studierende sowie bezahlte Praktika.

Philosophenturm geschichtsbewusst gestalten

Die Rückkehr in den Philosophenturm ist eine kulturelle Befreiung aus der Kahlheit des Ü35s. Er war Ort der Zusammenkunft, streitbarer Diskussionen und vertiefter Auseinandersetzung mit Philosophie, Geschichte, Kultur, Kunst und Sprachen. Damit verbunden war er einer der Ausgangspunkte für die Studentenbewegung 1968 und den Historikerstreit. Dafür, dass das wieder so wird, wollen wir Gelegenheiten schaffen, dass die Philturm-Nutzer:innen sich austauschen, der mit dem Gebäude verbundenen Geschichte beschäftigen und heute selber gestalten können:

  • Weiterhin steht eine tatsächlich groß angelegte Feier zum Umzug aus. Für diese wollen wir weiter wirken.
  • Vor dem Umzug waren die Wände in den Fluren mit Kunst, entstanden aus Besetzungen und anderen Aktivitäten der Studierenden, gestaltet. Diese wurde leider größtenteils mit der Sanierung vernichtet. Wir wollen eine Ausstellung mit exemplarischen Kunstwerken gestalten und in den Fluren aufhängen.
  • Das Kokoschka-Triptychon im Hörsaal D ist aufgrund gesteigerter Anforderungen des Brandschutzes und deswegen gesteigerter Kosten für das Aufhängen nicht mit zurückgezogen. Wir wollen für eine schnelle Finanzierung und Rückführung der Gemälde wirken.
  • Die von uns initiierte Benennung der Hörsäle im Philturm nach Personen, die durch ihr antifaschistisch-humanistisches Engagement die Universität geprägt haben und dadurch heute als Inspiration und Vorbild dienen können, treiben wir weiter voran.
  • Darüber hinaus fehlen noch viele Details, die eine lebendige Kultur im Philturm fördern. Beispielsweise eine große Tafel für Aushänge im Foyer.

Finanzierung für höhere Zwecke

Ein Grund für die Einrichtung von Fakultäten (vorher: Fachbereiche und Konzil/Akademischer Senat) war das Prinzip von Teile-und-Herrsche, was sich besonders bei Ein-Fach-Fakultäten wie der BWL zeigt: Im Streit um die viel zu geringe Grundfinanzierung soll sich gegenüber den anderen Fakultäten in Konkurrenz gesetzt und profiliert werden, statt gemeinsam für mehr Mittel zu streiten. Ein Ausbau der Kooperation für die Ausfinanzierung der Universität ist demgegenüber notwendig, der Lage angemessen und auch für die inhaltliche Entwicklung ein echter Gewinn.

Tätiges Erinnern gegen Rechts

Gegen das Vergessen und für die Bildung einer menschenwürdigen Perspektive für die ganze Welt machen wir Lesungen aus den Büchern, welche 1933 von faschistischen Studenten verbrannt wurden, wirken für die Beteiligung der Fakultät am „Monat des Gedenkens in Eimsbüttel“ und engagieren uns im Ratschlag für den 8. Mai als Feiertag sowie bei der Kampagne „International solidarisch – Schluss mit Austerität!“.

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